· 

Geschichten mit Abstand

Alle lesen jetzt "Die Pest" von Camus. Boccaccio passt aber auch sehr gut - ich hab das Dekameron wieder rausgekramt aus meinen Studientagen. Tolles Buch und ganz schön huch für seine Zeit (also irgendwann um 1350). Kurz zum Inhalt: 10 Menschen gehen während der Pest in Florenz in die soziale Distanzierung und erzählen sich 10 Tage lang 10 Geschichten.  Macht 100 Geschichten zu allem rund um Kirche, Glauben, Leben, Tod und Liebe. 100 Geschichten schaffe ich nicht. Ich versuche es mal mit zehn. 

 

1. Geschichte, 11. Juni 2020

Ansichtssache

"Auf geht`s", piepst der kleine Wanderfalke. "Ich will raus, die Welt entdecken." Der kleine Vogel war erst vor wenigen Tagen aus dem Ei geschlüpft. Die Enge und die stickige Luft in der Schale - die Erinnerung daran spürt er noch in jeder Feder. Jetzt hüpft er hin und her, schlägt wie wild mit den Flügeln. Sein Bruder verdreht die Augen. "Bist du verrückt geworden? Hampel nicht so herum, sonst fällst Du noch vom Turm. Außerdem wird mir ganz schwindelig." Sein Bruder ist der Ältere. Es sind zwar nur ein paar Minuten, aber die reichen für ihn, um auf Großer Bruder zu machen. "Ach Du bist ein Spießer", nörgelt der kleine Wanderfalke. "Du willst doch auch wissen, was da draußen los ist. Und es ist totlangweilig hier oben." "Du bist undankbar", widerspricht der Bruder. "Unsere Eltern sind den ganzen Tag unterwegs und jagen Essen für uns. Wir haben alles, was wir brauchen, und müssen uns um nichts kümmern. Glaubst Du wirklich, Du findest da draußen ein besseres Leben?" 

Der kleine Wanderfalke hält inne. Er überlegt, wirft seinen Kopf hin und her. "Kann sein, kann nicht sein", flötet er schließlich. "Ich bin ein Wander-, kein Liegefalke. Ich muss los. Mach`s gut."

Voller Überzeugung springt er zum Ausguck. Es ist ein warmer Frühlingstag, über der Stadt liegt eine dünne Wolkenschicht. Den Protest des Bruders ignorierend, stürzt sich der kleine Wanderfalke vom Turm. Er breitet die Flügel aus, die Luft trägt ihn. "Geht doch", denkt er. "Ein Meister wie ich fällt eben nicht vom Himmel." Es ist ein berauschendes Gefühl, so schwerelos durch die Luft zu gleiten. Einen Moment glaubt der kleine Wanderfalke, die Mutter zu sehen. "Verzeih mir, Mama", denkt er, fasst sich ein Herz und fliegt weiter. Die Stadt scheint noch zu schlafen. Die Straßen sind leer, vereinzelt sind Menschen unterwegs. Sie machen einen Bogen, wenn sie sich begegnen, schauen sich nicht an und tragen einen merkwürdiges Stück Stoff vor dem Gesicht.

Der Wanderfalke wundert sich. "Komisch, diese Menschen." Er dreht weitere Runden am frühen Morgenhimmel. Da taucht unter ihm ein Fluss auf. Am Ufer sitzt eine Ratte. Sie sieht traurig aus. Der Falke überlegt nicht lange. Er landet direkt neben ihr, noch unbeholfen und mit wackeligen Füßen. "Was willst Du?", knurrt die Ratte. "Lass mich in Ruhe. Und rück mir nicht so auf die Pelle." Der Wanderfalke legt den Kopf schief. "Du bist ja drauf... was ist denn hier los? Warum schaust Du so traurig drein?" Die Ratte schweigt. Dann atmet sie tief ein. "Seit dieses Virus unterwegs ist, hab ich nichts mehr zu tun. Die Menschen sind zu Hause, niemand geht essen. Da bleiben nur die Abfälle bei den Supermärkten. Ich kann das ganze Convenience-Zeug nicht mehr sehen." "Virus? Was für ein Virus?", fragt der Wanderfalke. "Na, dieses Corona-Vieh", mault die Ratte. "Du kriegst wohl gar nichts mit, Du Hinterwäldler." Der Wanderfalke ist beleidigt. "Man wird doch wohl noch fragen dürfen, aber wie Du willst - ich bin dann mal weg." Hochkonzentriert startet er durch und hebt ab, die Ratte wird kleiner und kleiner. Ein paar Flügelschläge, da taucht ein Park auf.  Eine Katze liegt im Schatten und döst. Leise landet der Falke neben dem Tier. "Scher Dich weg", faucht die Katze. "Noch nichts von Mindestabstand gehört? Behalt Deine Aerosole bei Dir!" Der Wanderfalke hüpft ein Stück zur Seite. "So besser?" "Passt", grummelt die Katze. "Ich will aber trotzdem meine Ruhe haben. Also texte mich bitte nicht zu." Der Falke überlegt kurz, öffnet den Schnabel, und überlegt es sich dann anders. "Noch so ein Grummelklotz", denkt er bei sich. "Das muss ich mir nicht antun." Er hüpft auf die Wiese und will gerade abheben, da schaut die Katze auf. "Nun warte mal", ruft sie. "Du hast mir noch nicht gesagt, was Du von mir wolltest!" "Was ich wollte? Dich kennenlernen", antwortet der Vogel. "Aber Ihr scheint ja alle mit Euch selbst beschäftigt zu sein hier unten. Da kann ich drauf verzichten. Mein Bruder hat Recht: Hier unten gibt es kein besseres Leben. Ich flieg zurück in meinen Turm."

Die Katze räkelt sich, streckt die Füße, dann setzt sie sich auf. "Wir sind mit uns selbst beschäftigt? Du hast ja keine Ahnung", murmelt sie. "Wenn es Dir nicht passt, haust Du einfach ab. Du kennst da oben keine Ausgangssperren, keine Grenzen. Wenn es sein muss, fliegst Du um die ganze Welt. Wir dagegen können nicht weg. Jeder hat Angst, dass ihn sein Nachbar mit dem Virus ansteckt. Viele hängen zu Hause herum, wissen nicht, wie es weitergeht. Wir können nur abwarten - das ist kein Vergnügen, da wird man schon mal grummelig." Der Wanderfalke fühlt sich beschämt. "Sorry", piepst er. "Ich wollte Dich nicht kränken. Tut mir leid. Kann ich etwas für Dich tun?" Die Katze überlegt. "Nun", schnurrt sie schließlich, "ich habe eine Idee. Du hast aus Deiner Perspektive einen anderen Blick auf die Dinge. Du könntest ein bisschen auf uns aufpassen, so quasi als Warnsystem. Könnte ja sein, dass wir, wenn der Spuk vorüber ist, gar nicht bemerken, dass wir keinen Grund mehr zum Grummeln haben. Das wär sehr schade." "Das ist eine schöne Idee", antwortet der kleine Wanderfalke. "Abgemacht?", fragt die Katze. "Abgemacht", schlägt der Wanderfalke ein.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0